Eine (fast) wahre Geschichte über Marvin* - der auszog um Koch zu werden
Marvin ist ein hochgewachsener Junge und mitten in der Pubertät, als er das erste Mal in der Kretschmerstraße klingelt. Sein Kumpel Nico ist dabei, als sich die Tür zur Wohngemeinschaft im Dachgeschoss öffnet. Er will sich umschauen, wie es so geht – im Heim. Aber wir greifen der Geschichte vor.
Marvin wohnt in Reick und geht in die Schule am Bergander-Ring, 8. Klasse und die schon zum zweiten Mal. Marvin ist ein durchschnittlich begabter Junge mit komplizierten familiären Voraussetzungen und einem großen Herz. Zuhause ist er der Älteste der insgesamt vier Geschwister. Zwei Schwestern, Chiara und Jasmin und Justin der Jüngste. Mit dem Vierjährigen teilt er sich ein Zimmer.
Wenn er nach Hause kommt, fliegt die Schultasche in die Ecke. Nicht weil er keine Lust für die Hausaufgaben hat, sondern weil er seiner Mutter hilft. Beim Wäschewaschen oder Wohnung aufräumen. Vorher schaut er vorsichtig ins Wohnzimmer, ob sein Vater da ist. Wenn ja, ist Stunk vorprogrammiert. Einen Grund braucht es dafür nicht. Manchmal schmeckt ihm das Essen nicht oder das Fernsehprogramm ist zu langweilig. Marvin kann einstecken. Er beschwichtigt den Vater, wenn er die Hand gegen die Mutter oder die Geschwister erhebt und zu oft fängt er dabei selber eine.
Sein Vater ist nicht immer so gewesen. Manchmal, im Sommer sind sie nach Leuben gefahren – baden in der Kiesgrube. Sie haben Wasserball im knietiefen Gewässer gespielt und durch die Finger in die Sonne geblinzelt. Das war noch vor der Geburt von Jasmin, als sein Vater noch in der Autowerkstatt jobbte. Marvin hat eigentlich immer Hunger. Am schlimmsten ist es, wenn er zuhause wieder nichts zu essen bekommt. Von einer legitimen Erziehungsmaßnahme spricht sein Vater dann. Eigentlich ist er gerne zuhause. Aber beim Wort „eigentlich“ fängt das Problem an.
Mit Nico hat er sich zusammengetan, weil er ein echter Freund ist, der schon mal von der mitgebrachten Stulle abgibt. Und auch sonst – mit ihm kann man reden, sagt Marvin. Er war es auch, der ihm riet zum Jugendamt zu gehen.
Der Weg zum Jugendamt ist jetzt vier Jahre her und Marvin hat nach der Beratung dort ein neues Zimmer in Wohngruppe der Kretschmerstraße bezogen. Endlich ein Rückzugsraum.
Britt Sack, Bereichsleiterin der Hilfen zur Erziehung, erzählt von Marvin, weil es eine exemplarische Geschichte von Jugendlichen ist, die in den Wohngruppen der Kindervereinigung Dresden eine neue Heimat finden. In der Kretschmerstraße wohnen die Jugendlichen in einem ganz normalen Mietshaus mit anderen Mietparteien. Jeder der Jugendlichen hat sein Zimmer nach seinem persönlichen Geschmack eingerichtet. Nach der Schule treffen sich die Jugendlichen in der Küche und gestalten die Freizeit gemeinsam. Oft lernen sie erst hier, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten und individuellen Interessen nachzugehen. Die Arbeit in den Wohngruppen ist dabei nur ein Teil der Hilfen zur Erziehung.
Mit dem Beginn der Pubertät wird es oft schwierig im Elternhaus. Auch weil die Eltern manchmal mit dem Alltag überfordert sind. Da ist es eine Aufgabe der 22 pädagogischen Fachkräfte im ambulanten Bereich die Familie in der Erziehungskompetenz zu beraten und damit die Jugendlichen im familiären Umfeld zu belassen. Bei den Eltern einen Perspektivwechsel zu bewirken, weg vom Defizit hin zu den vorhandenen Ressourcen, ist oft ein Schlüssel für die erfolgreiche Arbeit. Und natürlich hilft dabei auch das Netzwerk der Kindervereinigung Dresden.
Für Marvin war der Weg in den sogenannten stationären Bereich der Richtige. In der Wohngruppe hat er die Realschule erfolgreich beendet. Inzwischen steht er auf eigenen Füßen und lernt den Beruf als Koch in einem großen Dresdner Restaurant, gleich um die Ecke zur Kretschmerstraße. Marvin schaut öfter mal bei Britt Sack vorbei, um von der Lehre zu berichten und davon, wie es so geht in der eigenen kleinen Wohnung. Und es schwingt Stolz mit, wenn er erzählt, dass er mit dem Ausbildungsgeld ganz gut hinkommt. Seine Wohnung übrigens ist ganz in der Nähe der elterlichen Wohnung in Reick. Und natürlich ist der große Bruder für die drei Geschwister heute ein Vorbild.
Für Britt Sack und die 25 pädagogischen Fachkräfte aus dem stationären Bereich sind Beispiele wie Marvin tägliche Motivation und ein gelungenes Beispiel der Familienhilfe.
Name Marvin* geändert.